Kapitel 92: MissVerständnisse


"lenguage is, that we may mis-unda-stend each udda" (Krazy Kat im Jahr 1918).

Dieses Zitat stammt von Krazy Kat, dieser seltsamen, von George Herriman zu Papier gebrachten Katze, die sich in eine Maus verliebt, die sie mit Ziegelsteinen bewirft. Krazy Kat, die sich ihre eigenen Reime macht, zum Beispiel auf die Ziegelsteine, mit denen sie von der Maus beworfen wird, was Krazy Kat für Liebesbeweise hält. Eine Fehlinterpretation also, ein Missverständnis, Krazy beharrt darauf und will es sich nicht streitig machen lassen.

Bei Oskar Pastior heißt es: "Interessant wäre eine Rezeptionsästhetik des Missverständnisses" (aus: "Jalousien aufgemacht") oder: "Also lobe ich mir ein bestimmtes, füglich virtuelles Mißverständnis, das imstande ist, jene entscheidende Unschärferelation desTextvorganges zu generieren" (aus "Das Unding an sich").

Die Sprache verdient Misstrauen. Jede Kommunikation verdient Misstrauen. Das Missverstehen ist immer dabei, spielt seine Rolle. Die Aussagen und Botschaften unterliegen einer Unschärfe, produzieren diese manchmal auch selbst, manchmal mit Absicht.

Die Sprache bleibt gern oder ungern im Ungefähren, das Gedicht kennt die Mehrdeutigkeit, macht aber nicht immer von ihr Gebrauch. Und - ja - Gedichte ändern sich mit der Zeit, immer wieder, wenn wir sie lesen, geben wir dem Gedicht die Chance, sich neu zu präsentieren. Das gilt übrigens nicht nur für das Gedicht, das gilt für alle Texte, oder sagen wir, für viele, in der Literatur und nicht nur in der Literatur. Wir kennen es zum Beispiel auch von einer Gebrauchsanleitung, einst sonnenklar, einige Monate später von geheimnisvoll verwirrter Schönheit, die Tippfehler sind jetzt auch nicht zu übersehen, glücklicherweise ist das Gerät bereits in Betrieb genommen. Um eine Gebrauchsanweisung zu befolgen, braucht es grundsätzliche Übereinkünfte, um ein Gedicht zu verstehen, vermutlich ebenfalls, auch wenn dieses Verstehen kein "Befolgen" ist und das Resultat nicht unbedingt von vornherein klar ist. Immer aber kann man auch zwischen den Zeilen lesen, etwa dann, wenn eine Einkaufsliste Auskunft gibt über das alltägliche Leben oder selbst zum Gedicht wird.

So gerne wir etwas verstehen wollen, sei es Gedicht, Leben oder eine andere Person, so wenig ist es möglich, ohne auch das Missverstehen wahrzunehmen, fürwahr. Mit dem Geschick und dem Missgeschick verhält es sich ganz ähnlich, wie überhaupt viele Gegensätze sich miteinander verbinden, und auf ihre Art und Weise die Welt zusammenhalten. Dazu würde das Gedicht von Liesl Ujvary passen, das den Titel trägt "Was die Welt zusammenhält", das ich aber schon in Kapitel 45 zitiert habe.

Jedenfalls ist es so, dass auch Personen sich ändern. Und daher ändert sich ihre Wahrnehmung einzelner Gedichte, einzelner Texte und überhaupt aller Aspekte der sogenannten real existierenden Wirklichkeit. Bei Büchern und den darin enthaltenen Texten und Bildern erlebe ich das in der letzten Zeit öfter, weil wir unser Bücherregal geordnet haben und ich manche Bücher ein zweites oder gar drittes Mal gelesen habe, und dann habe ich nachgeschaut, was ich mir bei der Erst- oder Zweitlektüre notiert hatte, ich schreibe mir ja nicht nur die Titel der gelesenen Bücher auf, sondern ich mache mir kleine, manchmal sogar größere Notizen.

Davon, wie sich das eigene Sprechen verändert, wie Dinge sagbar werden, indem sich der Blick und der Schwerpunkt verändert, wie also Dinge sagbar werden, die (vielleicht in einem fernen Damals) unsagbar waren, davon handelt das folgende Gedicht von Lisa Elsässer (aus "Da war doch was").

es geht jetzt
ganz nüchtern zu sagen
DAS WAR EINMAL
zynisch geht es
DU WARST EINMAL
witzig verspielt
WARST DU EINMAL
es geht jetzt ganz
nüchtern zynisch
witzig verspielt
zu sagen:
DU WARST DAS ALLES
EINMAL.

Abschließend einige Zeilen aus einem Gedicht von Tomas Espedal (aus "Das Jahr"). Thema ist ebenfalls die Veränderung, die wir durchlaufen, könnte man sagen, die uns ausmacht, könnte man auch sagen. Und so ist das, könnte man sagen: So ist das. Eben.

Manchmal ist es schwieriger sich zu erinnern wer
man im vorigen Jahr war denn man lebt so stark
in einer Veränderung
dass die Veränderung
selbst das Leben ist

Wir im Fröhlichen Wohnzimmer haben übrigens begonnen, uralte Negative durchzuschauen. Es ist sehr interessant, sie sind ein bisschen wie neu für uns, in unserem Jetzt, Jahrzehnte danach. Es sind schwarz/weiß Bilder, an deren Entstehung wir uns kaum oder nur fragmenthaft erinnern. Hier ist eines davon, vielleicht ist es ein Stück visueller Poesie, ein Fundstück, das aus der Vergangenheit in die Gegenwart gesegelt ist.