Kapitel 93: Die Nächte, der Schlaf, die Anerkennung und der Mut: Verknacks dir nicht das Handgelenk!


Ich beginne mit einem Gedicht von Maria Mitchell, die im Jahr 1844 einen Literaturklub gegründet hat, einen Literaturklub mit Quotenregelung quasi, einen, der sich aus zweiundzwanzig Frauen und zweiundzwanzig Männern zusammensetzte. Sie hatte schon 1837 eine Schule für Mädchen gegründet, und setzte sich ihr ganzes Leben dafür ein, den Zugang zur Bildung für Frauen zu ermöglichen. Gefunden habe ich einen Bericht über ihr Leben und ihre Arbeit - sie war Astronomin - im Buch "Findungen" von Maria Popova. Auch das zitierte Gedicht ist dort zu finden.

Maria Mitchell

Wenn du des Nachts allein spazierst,
Kannst du vieles derweil entdecken.
Ist ein Herr dabei, wird nur schwadroniert,
Und du musst deine Klugheit verstecken.

Ja klar, es geht um die dominante Präsenz der Männer und ich glaube, die meisten Frauen haben solche und vergleichbare Situationen erlebt, Männer natürlich auch. Ich denke jetzt gerade an das Buch "Wenn Männer mir die Welt erklären" von Rebecca Solnit, sehr lesenswert.
Und nein, mit dem Verstecken der Klugheit muss Schluss sein. Auch wenn der Begriff "Klugheit" vielleicht etwas unpräzise ist, oder, sagen wir so, Klugheit ist etwas sehr unterschiedliches.

Jetzt springe ich zum nächsten Gedicht dieses Kapitels, es ist ein Sprung über viele viele Jahre, Jahrzehnte. Das Gedicht stammt von Angelika Stallhofer und steht in ihrem Gedichtband: "Stille Kometen". Es scheint mir in einem lockeren Zusammenhang zum ersten Gedicht zu stehen zu stehen, weil es nämlich aus meiner Sicht auch davor warnt, Wünsche oder Fähigkeiten und Neigungen zurückzustellen, um niemanden einzuschüchtern, sich keinen Neid zuzuziehen, sich nicht unbeliebt zu machen. Dabei besteht nämlich die Gefahr, ein grimmiges Monster zu werden, eines, das sich nur klammheimlich nach der Anerkennung sehnt und mit Missgunst auf andere blickt.

Angelika Stallhofer
Willst du ein Monster aus dir machen

Such nichts
als Anerkennung
und Liebe

Zugleich macht das Gedicht aber auch darauf aufmerksam, dass in manchen Fällen das Suchen nicht die richtige Art und Weise sein könnte, etwas zu finden. Wie könnte man Anerkennung und Liebe suchen? Und sonst nichts? Vielleicht verlangt der Titel sogar ein Augenzwinkern vom Leser, von der Leserin: Es gibt ja so viele Arten, ein Monster aus sich zu machen, manche sind vielleicht ganz okay, weil ja nicht jedes Monster ein Monster ist. Oder etwa doch?

Ich bin ich, weil mein kleiner Hund mich kennt.

Das sagt Gertrude Stein in ihrem Buch "Die geografische Geschichte von Amerika". Es handelt sich hier sozusagen um eine sehr spezielle Art der Selbsterkenntnis, ganz anders gefunden oder erfunden.

Ich möchte hier mit einem Gedicht aus dem Buch "Immer nach Hause" von Ursula Le Guin anschließen. Dieses Gedicht wird innerhalb des genannten Buches als Dichtung des Blauton vorgestellt und ist ein sogenanntes Knochengedicht.
Es passt insofern hierher, weil es, so wie auch die beiden ersten Gedichte, eine Art Rat enthält, einen Hinweis, der sich auch auf Gedichte, ihre Hintergründe und Zusammenhänge beziehen kann. Es ist ein durchaus ironischer Hinweis, denn ein Rätsel knackt man natürlich nicht mit den Handgelenken. Und auch beim Nachdenken über Gedichte kann sich niemand ein Handgelenk verknacksen. Hier das Gedicht:

Ursula Le Guin

Verknacks dir nicht die Handknochen
beim Versuch, das Rätsel zu knacken.
Nimm es, iss es, nutz es, trag es,
wirf es nach Kojoten.

Na dann! Die Kojoten wären zwar möglicherweise nicht erfreut, wenn ich Rätsel und Rätselhaftes nach ihnen werfen würde, aber ich habe sowieso in meinem ganzen Leben keinen Kojoten gesehen und ich denke nicht, dass ich in Zukunft einen sehen werde. Außerdem tut ein durch die Luft fliegendes Rätsel oder ein durch die Luft fliegender rätselhafter Gedanke ja nicht weh. Schwupp.
Das Buch von Ursula Le Guin ist selbst ein bisschen rätselhaft, aber das macht nichts, im Gegenteil. Berichtet wird über die Volksgruppe der Kesh, die in Nordkalifornien gelebt haben wird, lange nachdem unsere Zivilisation untergegangen sein wird. Es gibt Beschreibungen der Lebensweise der Kesh, ihrer Erzählungen, ihrer Märchen, es gibt ein Wörterbuch, ein Alphabet mit Ausspracheregeln etc. Beschrieben werden auch Lieder, Landkarten, Kunst, Kleidung, Tänze und Musikinstrumente. Und es gibt eben Gedichte der Kesh, die in verschiedenen Kontexten und Schreibweisen verfasst wurden.

Zum Abschluss nun ein Gedicht von Katharina Riese, es stammt aus ihrem Podium Portraitband, in gewisser Weise ist es ebenfalls ein Rat, die Beschreibung einer Notwendigkeit wohl auch. Mut brauchen wir ja alle, und ohne Angst ist er nicht denkbar, der Schlaf könnte dabei helfen, den Mut zu bewahren, zum Beispiel hier und jetzt, in den ersten Tagen des Jahres 2024.

Katharina Riese

an der Türschwelle
die innen und außen trennt
Mut anschlafen