Kapitel 51: Augen aus einer unbekannten Welt.


Nikolaus Scheibner, mit dessen Gedicht ich beginnen will, hat einen neuen Lyrikband veröffentlicht. Er heißt "Die Badewanne als Kriegsgerät" (Edition Art Science).

begrünung an
der oberfläche
mein bodenloses
besäufnis erkennt
den flascheninhalt
wir lernen nichts
die straße in uns
ist unbegrünt.

Ich bleibe am Wort unbegrünt hängen. Diese Straße, wie sieht sie aus? Wie könnte sie aussehen? Um mir ein Bild zu "machen", gebe ich das Wort unbegrünt in die Suchmaschine ein. Ich verwende jetzt übrigens die Suchmaschine labarama, das ist eine, die meine Daten nicht speichert und die mir sympathischer ist als google. Vielleicht mache ich es mir ein bisschen leicht, das Internet zu bemühen? Nein, doch nicht, denn unter unbegrünt finde ich keine Bilder. Unter unbegrünt finde ich NICHTS. Es ist quasi, soviel ist klar, das Gegenteil von begrünt. Die Straße in uns ist nicht begrünt. Weder, offenbar, von uns selbst, noch von irgendjemand oder irgendetwas anderem. Die Flasche könnte grün sein, allerdings. Das wäre möglich. Es könnte eine grüne Flasche sein, aus der "wir" nichts lernen.
Alles Unsinn!
Bin ich denn schon so weit und so dumm, dass ich aus einem Gedicht etwas herauslesen will, womöglich gar der Versuchung erliege, es in anderen Worten nachzuerzählen?
Oh nein! Oh nein!

An diese Stelle passt ein Gedicht von Hans Eichhorn. Ich entnehme es dem Band "Versnetze 10", einer Lyriksammlung, die Axel Kutsch alljährlich zusammenstellt.

DIE VERSUCHUNG IST GROSS, DIE BUCHSTABEN

mit dem Kalbsrahmbeuschel zu verwechseln.
Viele Kalorien, viele Blickblitze, gesammelt zum
Speicherkraftwerk und über den Kamm geschert.

Der Tag ist doch kein fahrender Händler, der für
jede zugesteckte Blechmünze sein Vergelt's Gott
murmelt. Nie fanden hier Pferderennen statt

und nie ist es zu harmloseren Plaudereien gekommen.
Werden Gedichte wie Häuser gebaut? Ja, das da ist
die mobile Küche, samt ihrem Arsenal an Zutaten

und dort ist das Wohnzimmer, wo lustig ein offenes
Feuerchen flackert und hier ist der Hintereingang, der
bei strikter Aufforderung auch zu nehmen ist. Bitte!

Und: Bitte! Gedichte sind absonderlich und süß. Und jede, jeder liest darin und nichts heraus, es bleibt stehen, was drinsteht. Also alles und mehr.