Kapitel 30: Die Dinge rund um uns


Was will ein Gedicht, ja diese Frage habe ich mir schon öfter gestellt.
Übrigens: In meinen Fragen und Aufzeichnungen geht es immer drunter und drüber, querfeldein und querfeldaus. Gelingt es zum Beispiel Fritz, seine Aufzeichnungen "I want to be a cowboys sweetheart" chronologisch durch Jahrzehnte zu navigieren, so springe ich hin und her und wieder zurück. Dieses Kapitel ist übrigens etwas lang geraten. Na gut, es ist ja ein leichtes, nach unten zu scrollen, nicht wahr?

Es gibt Gedichte über Dinge. Sie sind immer auch Gedichte über uns. Über uns und darüber, wie wir mit diesen Dingen leben, wie wir uns umgeben lassen, wie wir die Dinge umgeben. Was wir mit den Dingen anfangen, wir wir sie anschauen, wie sie Platz finden in unserem Leben. Ja, und ob es die Dinge nun gibt oder nicht, es gibt uns.
Dazu zitiere ich Ines Oppitz und ihr Gedicht "fraglich".

fraglich

wohne hier
ein webstuhl
drei äpfel hinter
der tür

über die kante
gezogen
himmel hölle und
haus
knopf und
nadel im
ohr

huflattich halb
unterm
schnee

lippenweit
zirrusgirlanden

(aus Ines Oppitz "ein schwebendes verfahren")

Die Dinge also sind es, die in den Gedichten als Worte auftreten, auf sich aufmerksam machen, sichtbar werden, auf unserer Nase als Erinnerung herumtanzen, als "Schleifspuren", als optische Täuschungen, als Muster, Raster, Ratespiele undsoweiter undsofort. Dinge, ja, mehr oder weniger einfach: Dinge. Und ein Ohr. Eine Pflanze. Und der Schnee, der genau genommen kein Ding ist, sondern ein Lebenwesen.
Ich zitiere Waltraud Seidlhofer:

an den ecken
lehnen die dinge
schleifspur, kindheit, asphalt
glas und kanten und wasser
all das bunte, gemischt
und im ruecken das meer
scherenschnitt, schiff
anlaut und reim
rost auch, und rollen,
und so weiter, gereiht.
von den augen
schieben die haende die bilder
abgespult, ein wenig zerstreut
so als glitte das gedaechtnis zu schemen
fremdwort, zerkleinert,
und ohne bedacht

Dieses Gedicht von Waltraud Seidlhofer zitiere ich aus dem Buch "stadtalphabet", das im mitterverlag erschienen ist.

Um den Bogen zu Ines Oppitz zu schließen, wollte ich hier mit meinem "Apfelgedicht" schließen. Es ist quasi eine Hommage an den freundlichen Apfel, aber ach: Es hat sich während des Schreibens verändert. Anstatt dass der Apfel an zentraler Stelle steht, ist es nun eher ein Gedicht über das Schreiben von Gedichten geworden, das hier nicht passt und von dem ich momentan auch gar nicht weiß, ob ich mit ihm zufrieden bin. Nein, das weiß ich momentan überhaupt nicht. Es ist nämlich so eine Sache mit dem Schreiben von Gedichten, nein, nicht nur mit dem Schreiben von Gedichten, sondern mit dem Schreiben generell, nein, nicht nur mit dem Schreiben, sondern mit dem Zeichnen, dem Suppekochen und dem Schwimmen, dem Spazierengehen, dem Reden, dem Schlafen und dem Aufwachen, ja es ist so eine Sache mit all den "Dingen", die wir tun, ob sie nun absonderlich und süß sind oder nicht: Sie machen uns zufrieden, ja, fröhlich, heiter oder traurig - oder auch nicht. Und manchmal brauchen sie länger, um zu gelingen.
Deswegen steht an dieser Stelle ein Gedicht, das eindeutig hierher passt.
Ich habe es als Reaktion auf Waltraud Seidlhofers Gedicht geschrieben und ihr gewidmet.

all das bunte, gemischt
mmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmmFür Waltraud Seidlhofer
Die Dinge sind
all das bunte, gemischt,
Bücher,
Bleistifte,
Schuhe, Socken, Hosen, Jacken,
Medikamente für verschiedene Tage und Zeiten.

Die Dinge sprechen zu mir.
Sie sagen zum Beispiel: Ilse,
du bist nicht so robust
wie du glaubst und die
Medizin, der du immer
und mit Respekt misstraust,
sie rettete dich,
nichtsdestotrotz,
vielleicht.

Die Dinge sind
all das bunte, gemischt,
was ich brauche,
zum Beispiel, jetzt,
Tabletten, Vorsicht, festes Schuhwerk

Am besten ist es vermutlich,
sich erfreulichen Dingen zuzuwenden.
Auf der Stelle.
Dinge können viel sein.
Spontan erweitere ich das Wort Ding zu Dings.
Plural Dingse.
Dings führt weg von der Verdinglichung.
Verdingslichung ist anders, obwohl als Scherz dumm.
Dumme Scherze sind ein Dings an sich.
Das kommt vor.

Wir saßen in Thalheim bei Wels,
zu viert: Fritz, Gregor, Ilse, Waltraud,
Gläser mit Getränken auf dem Tisch.
Thema: Was uns am Leben nicht passt.
Ohne Alkohol schwer zu ertragen,
Viel
passte
uns
nicht.
Der Satz aber passt.
Wir tranken.

Warum eigentlich nicht neunzig werden,
fragten wir uns. Wir meinten Jahre, neunzig.
Ein bisschen Angst setzte sich zu uns,
sie nahm Platz, frech, warum eigentlich nicht,
auch das.

Ja, all das bunte, gemischt:
und nochmals all das bunte, gemischt,
und: Zirka zehn Mal Da Capo:
all das bunte, gemischt.

So lese ich immer weiter:
Zehn mal Da Capo:
all das bunte, gemischt.