Kapitel 21: Aber wenn


Ich beginne dieses Kapitel mit einem Gedicht von Shel Silverstein (es steht im Buch "Ein Licht unterm Dach") und es heißt "Aberwenn":

Gestern nacht, als ich vor dem Einschlafen noch ein bisschen fror,
krochen mir ein paar Aberwenns ins Ohr,
tanzten und scherzten, mal laut mal leise,
und sangen die uralte Aberwenn-Weise:
Aberwenn ich in der Schule nichts weiß und alle lachen?
Aberwenn sie das Schwimmbad dichtmachen?
Aberwenn er mich verhaut, der Stärkste der Klasse?
Aberwenn mir jemand Gift tut in meine Tasse?
Aberwenn ich weinen muss?
Aberwenn ich krank werde und - paff - Exitus?
Aberwenn ich sitzenbleibe?
Aberwenn ich grüne Haare krieg am ganzen Leibe?
Aberwenn mich niemand mehr mag?
Aberwenn mich der Blitz trifft und ich krieg einen Schlag?
Aberwenn ich so klein bleibe, wie ich bin?
Aberwenn mein Kopf nicht nur klein bleibt, sondern schrumpft sogar noch vor sich hin?
Aberwenn die Fische nicht beißen?
Aberwenn Sturmböen meinen Drachen zerreißen?
Aberwenn es zum Krieg kommt und zum Aufstand der Massen?
Aberwenn meine Eltern sich scheiden lassen?
Aberwenn der Bus Verspätung hat?
Aberwenn meine Zähne krumm wachsen statt grad?
Aberwenn ich mir die Hose zerreiße?
Aberwenn ich nie richtig tanzen lerne? Schöne Scheiße.
Aberwenn Alles scheint ganz prima zu sein, und im Nu
Aberwenn Schlagen die nächtlichen Aberwenns wieder zu.

Wer kennt sie nicht, die nächtlichen Aberwenns? Kann man sich irgendwo sicher fühlen? Ich glaube nicht. Trotzdem haben die Aberwenns verschiedene Qualitäten, die man vielleicht nicht immer sofort sehen kann, wenn sie ins Ohr gekrochen sind. Manche Abwerwenns können nämlich in der Tat scherzen oder sogar tanzen. Dem Aberwenn zum Beispiel, das von der zerrissenen Hose spricht, kann ich - heutzutage, ich bin erwachsen - heiteren Gemütes beim Tanzen zuschauen. Als ich ein Kind war, war das nicht so, so eine zerrissene Hose konnte bedeuten, dass es zuhause "Probleme" gab, dass mit mir geschimpft wurde. Aus heutiger Sicht, nicht so schlimm, damals durchaus beängstigend.
Manche Aberwenns tanzen nie. Sie können gar nicht tanzen, sie tun nur so. Und ihre Scherze schmecken bitter, sodass das Lachen im Hals steckt wie ein Kloss. Fast wollte ich schreiben: Wie ein Koloss. Ja wie ein Koloss, den man irrtümlich verschluckt hat.
Es ist also unmöglich, ein Leben ohne Aberwenns zu führen. Da fällt mir so ein Sprüchlein ein, ich weiß gar nicht, wo ich es gehört habe: "Ja, wenn das Wörtchen wenn nicht wär..." Wenn ich an diesen Halbsatz denke, stellt sich eine kleine Melodie ein, lalalala, vielleicht hat jemand mir den Halbsatz vorgesungen? Tröstlich war er wohl nicht gemeint, obwohl ein "wenn", also die Andeutung von Möglichkeiten, nicht unbedingt beängstigend sein müsste....

Nicht unbedingt eben.