Kapitel 101: Tick sagt die Uhr. Pause. Tack..


Dieses Kapitel wird nicht, wie ich ursprünglich vorhatte, ein Kapitel mit Gedichten über andere Gedichte, das schiebe ich noch ein bisschen auf, sondern es wird ein Kapitel über das Altwerden, also über etwas, das wir ja mehrheitlich wollen und das ebenso mehrheitlich von Zittern und Staunen begleitet wird, sowohl dann, wenn wir uns selbst beim Älterwerden erleben, als auch bei der Beobachtung anderer, alter oder älterer Mitmenschen, ja, außerdem auch dann, wenn es sich nicht um Mitmenschen, sondern um andere Mitlebewesen handelt, zum Beispiel den alten Hund einer Nachbarin, dem sie eine Art Gehhilfe gebastelt hat.
Das Thema dieses Kapitel hat natürlich auch etwas mit mir als älter werdende Autorin und mit meinem neuen Buch zu tun, das ja das Älterwerden als ein Thema hat. Das Älterwerden steht als Thema ja nicht und grundsätzlich nicht alleine da so wie wir als älter werdende Personen nicht alleine dastehen. Davon handelt das erste Gedicht, es stammt von Harald Sack Ziegler und befindet sich in einer Anthologie mit dem Titel "Gedichte für Friedhöfe", Poesieallee 2025.

Alle Menschen

Alle Menschen werden älter.
Alle Menschen werden gleichzeitig alt.
Jeden Tag, jede Stunde, pro Minute, pro Sekunde
werden alle Menschen gleichzeitig alt.
Ab jetzt oder jetzt oder jetzt oder jetzt oder jetzt
werden alle Menschen gleichzeitig alt.
Das stimmt so, wenn man darüber nachdenkt
werden hier alle gleichzeitig alt.
Immer älter, älter, älter, älter, älter, älter, tot
geboren werden, älter, älter, älter, älter, tot
geboren werden, älter, älter, älter, älter, tot
geboren werden, älter, älter, älter, älter, tot
geboren werden, älter, älter, älter, älter, tot
Alle Menschen werden älter.
Alle Menschen werden gleichzeitig alt.
Jeden Tag, jede Stunde, pro Minute, pro Sekunde
werden alle Menschen gleichzeitig alt.
Egal, ob sie jetzt 7, 12, 24, 32, 48, 70 oder 80 sind
oder ob sie gerade auf die Welt kommen,
alle werden gleichzeitig alt.
Alle Menschen werden älter.
Alle Menschen werden gleichzeitig alt.
Jeden Tag, jede Stunde, pro Minute, pro Sekunde
werden alle Menschen gleichzeitig alt.
Ab jetzt.

Ich muss lächeln, weil es natürlich eine einfach Tatsache ist, ja das Alter ist für uns alle da. Es steht allen Menschen zur Verfügung. Aber eben nicht auf die gleiche Art und Weise. Ich, hier in Mitteleuropa, geboren als menschliches Wesen, habe ganz gute Voraussetzungen beim Älterwerden. An diese Stelle passt ein Gedicht von Waltraud Haas, sie hat es mir gewidmet. Als sie es geschrieben hat, war ich sechsundsechzig Jahre alt. Jetzt bin ich schon siebenundsechzig Jahre alt, naja, was soll man dazu sagen, das ist ja in gewisser Weise ganz normal. Würde ich nicht älter werden, könnte das eigentlich nur heißen, dass ich tot bin und tot möchte ich eigentlich auch noch nicht sein. Das Gedicht von Waltraud Haas steht in ihrem neuen Gedichtband mit dem Titel "ich ein sommerregentropfen", erschienen 2025 im Klever Verlag.

für ilse kilic

sixty-six
und nix ist fix
bis auf die innere uhr
die tickt

Ja ja, die innere Uhr. Ich bin froh, dass sie tickt. Ein bisschen leiser könnte sie sein. Erst habe ich mich vertippt und statt leiser leider geschrieben. s und l liegen nebeneinander. Ein bisschen leider stimmt aber auch.
Jetzt schlage ich das Buch von Linntje auf. Es heißt "Gesammelte Welten der Waldliteratur" und ist erschienen in der Edition Volles Haus, Basel 2023. Auf Seite 25 steht das folgende Gedicht:

Schließlich

Wir werden schon sehn
Was uns blüht und erwächst

Durch und über den Kopf

Wer weiß wohl warum
Wir glauben, wir können

Noch Wunder bewirken,
Sind längst schon verwelkt

Mit dem Altwerden hat das Gedicht nicht viel zu tun. Mit der Welt der tickenden Uhren aber durchaus. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass die Person Linntje, also die schreibende Person, die Nachsilbe -tje als Merkmal für eine sogenannte Gattungsunbestimmtheit an ihren Namen gehängt hat, was zu einer - wie soll ich sagen - Unschärfe der Wahrnehmung des schreibenden Ichs führt, dieses Ichs, das übrigens ein "Instinktut für angewandte Normverschiebung" betreibt. Wäre ich, also die älter werdende Autorin Ilse Kilic, jünger, wer weiß, würde ich mich auf die Socken machen und Linntje einen Besuch abstatten. Da ich aber eine gewisse Unfähigkeit zu reisen an mir bemerke, habe ich nur ihre Homepage besucht und Linntje in meinem eigenen Buch zitiert, in dem es ein Angstitut gibt, das, ganz meiner persönlichen Befindlichkeit geschuldet, ein Angstitutorium beherbergt und, natürlich, die Idee eines Paradiesoids. Ich bin in gewisser Weise ein Angsthase, aber das wird ja jenen, die mir in Text oder der sogenannten real existierenden Wirklichkeit schon begegnet sind, bekannt sein. Vielleicht, das sage ich jetzt ganz keck, vielleicht ist es notwendig, ein Angsthase zu sein, um den Übermut zu kennen oder die Sanftmut. Hasen sind sehr schnelle Tiere mit interessanten langen Ohren.
Zum Abschluss nun ein Gedicht von Fritz Widhalm. Das Gedicht steht auf Seite 25 seines sogenannten Alterswerkes, welches online auf unserer Homepage erscheint, immer in einzelnen Etappen, also langsam, wie ja auch das Altwerden vor sich geht, die tickende Uhr beschleunigt es ja nicht, sie begleitet es aber mehr oder weniger laut.

ich sitze auf einer wiese
und denke einen satz:
"ich sitze auf einer wiese, die
sonderbare geräusche hervorbringt."
die tatsache, dass
ich auf so einer geräusch-
vollen wiese sitze, macht
mich grenzenlos.
ich versuche mein gleich-
gewicht nicht zu verlieren.
die sonne scheint.
ich bekomme luft.
die sonne scheint.
ich bekomme zu wenig luft.
ich heiße fritz.
ich sehe gut aus.
ein bier würde mir jetzt guttun.
wie heißt es so schön:
"sterben kann man
auf dieser oder jener wiese."
ich klettere auf keinen baum.
ich nehme mir vor, allen
bäumen aus dem weg zu gehen.
auf bäumen kann es nur abwärts gehen.
ich habe viele bäume im kopf.
da kommt ein vogerl geflogen:
"steh auf und geh nach hause, dann
ist die wiese still."
ich bin 69 jahre alt.
ich weiß nicht, was ich sagen soll:
"das ende aller wiesen ist nah."
nicht alle bäume in meinem kopf
schießen ins blaue.
im grunde meines herzens bin ich
ein forderungskatalog.