Kapitel 17: Das Gedicht ist meist gut durchwärmt


So stempelte ich im Band "Ach die Sprache" (edition zzoo, Wien 2006). Die Stempelbuchstaben stammen übrigens aus Ungarn, haben handgeschnitzte Holzsockel und machen das Stempeln zu einem Vergnügen für die Hand. Ich stempelte also ein Gedicht über das Gedicht.

Das Gedicht ist meist gut durchwärmt,
gelegentlich neun bis zehnmalklug,
nicht geeignet, Stockwerke zu erklimmen.
(...)
In der Höhe vergeht die Zeit langsam.
So gilt das Gedicht zu ebener Erde als der Zeit voraus.

Heute las ich im Buch von Swantje Lichtenstein mit dem schönen Titel
GESCHL
ECHT
die folgenden

die folgenden Sechs steilen Thesen zum Gedicht.
die folgenden 1. Das Gedicht macht mit.
die folgenden 2. Das Gedicht gibt nicht.
die folgenden 3. Das Gedicht sieht dich.
die folgenden 4. Das Gedicht übt Verzicht.
die folgenden 5. Das Gedicht dreht sich.
die folgenden 6. Das Gedicht ist geschlechtlich.

Ich finde alle Thesen zum Gedicht absonderlich und süß wie das Gedicht selbst. Genau genommen sind die sechs Thesen zum Gedicht selbst ein Gedicht.
(Das Büchlein von Swantje Liechtenstein ist übrigens erschienen in der Edition Poeticon im Verlagshaus J. Frank, Berlin 2014, ISBN 978-3-940249-81-4).

Ich denke gerade daran, die Liste der Thesen zu erweitern. Aber ich machs nicht. Andererseits hab ichs schon gemacht: Das Gedicht ist meist gut durchwärmt! Meist. Immer aber nicht.

Heute ist es im Fröhlichen Wohnzimmer recht kühl. Hm, eigentlich sollten wir die Heizung größer drehen, sagte ich. Ein gut durchwärmtes Gedicht könnte uns aber auch ordentlich einheizen, sage ich.
Ich setze mich mit dem Rücken zum warmen Kachelofen und lese einen Tagebucheintrag von Susan Sontag am 22. 2. 1976:

Ich brauche eine mentale Turnhalle.

Und am 15. 8. 1976 schreibt Susan Sontag:

Veränderungen im Körper, Veränderungen im Zeitgefühl. Was heißt es, wenn die Zeit schneller vergeht, wenn sie langsamer zu vergehen scheint?

An dieser Stelle erinnere ich mich an mein Gedicht:

In der Höhe vergeht die Zeit langsam.
So gilt das Gedicht zu ebener Erde als der Zeit voraus.

(Ich habe darüber gelesen, dass Uhren in großer Höhe etwas langsamer gehen. Oder in Flugzeugen. Ich glaube, dass dies sogar stimmen könnte. Zeit ist ja nicht so absolut, wie sie manchmal scheint).